"Verhurte Königin, stinkendes Schwatzmaul": Wie Wolfram den "Willehalm" für sein höfisches Publikum kompatibel machte

„Verhurte Königin, stinkendes Schwatzmaul, Tedbald treibt es mit Euch, der dreckige Schuft, und auch Sturmi mit dem bösen Gesicht. Sie sollten Archamp vor dem Volk der Heiden schützen und ergriffen die Flucht; mein Neffe blieb zurück. Wohl mehr als hundert Priester haben Euch besprungen, kräftig haben sie jenen Amboß dort bearbeitet, und Ihr mochtet die Kammerfrau nie dazurufen, verhurte Königin, stinkendes Schwatzmaul!“

Aus: Chanson de Guillaume, übersetzt von Beate Schmolke-Hasselmann, Wilhelm Fink Verlag 1983.

Dieses deftige Zitat stammt aus der altfranzösischen „Chanson de Guillaume“ (Wilhelmslied), die mit der direkten Vorlage des „Willehalm“, der „La Bataille d' Aliscans“ (Die Schlacht von Aliscans=Alischanz), eng verwandt ist.
Wolfram verfasste seinen „Willehalm“ etwa 30 Jahre nach der “La Bataille d' Aliscans“ (um 1185) für ein deutsches Publikum, das nicht mit der Gattung der Chanson de Geste vertraut war und das deshalb auch einen anderen Erwartungshorizont hatte. Bestimmte Stellen hätten sein auch aus Damen bestehendes höfisches Publikum offenbar geschockt, so dass er grausame Kriegsszenen oder auch Stellen wie die eingangs zitierte deutlich abschwächt. So umschreibt Wolfram Willehalms Beleidigung seiner königlichen Schwester auf dem französischen Hof in Laon mit folgendem „Trick“:

"Von Zorn getrieben, schimpfte unterdes der Marekgraf immer noch auf seine Schwester und beschuldigte sie grundlos: die Frauen, deren Liebe käuflich ist, mit deren Namen wurde noch und noch die römische Königin bedacht. Ich hätt' euch diese Namen nennen können, wenn ich wollte: Anstand gebietet, dass ich sie verschweige."

Aus: Willehalm, Buch III, 152-153

Ich habe mich dazu entschlossen, in meiner Erzählung "Willehalm und Arabel", ebenso wie in alten Vorlage, wieder klar zu sagen, worum es geht:

„Doch Irmscharts Einsatz hat Willehalm nicht besänftigen können, immer noch wettert er gegen die Königin, und vergisst sich schließlich selbst. Er schimpft seine Schwester eine Hure und behauptet, dass sie sogar zu dem Araber Tibalt schon lange eine Liebesbeziehung pflege.“

Aus: Willehalm und Arabel, S. 73

So wie ich vor allem zwei verschiedene Übersetzungen des „Willehalm“ als Vorlage genommen habe, so hat sich Wolfram offenbar auch mehrerer Vorlagen des altfranzösischen Stoffes bedient. Wolfram erhielt seine Vorlage vom Landgrafen Hermann von Thüringen, wie er es in seinem Prolog des Willehalm selbst erzählt. Welche Handschriften ihm dabei genau zur Verfügung standen, ist in der Forschung jedoch umstritten. Klar ist jedoch, dass die Grundlage eine Handschrift der oben genannten „Aliscans“ gewesen sein muss, weil sie mit seinem „Willehalm“ am ehesten übereinstimmt.

Die Chanson wurden im Laufe der Überlieferung ständig um- bzw. überarbeitet. Diese bewegliche, auf mündliche Vermittlung beruhende Tradition führte auch Wolfram von Eschenbach weiter, in dem er den an der historischen Geschichte orientierten Kern der Handlung beibehält. In der Ausgestaltung war der Dichter jedoch frei, so dass Szenen gekürzt, erweitert, neu eingefügt, Namen erfunden oder ganze Beschreibungen verändert werden konnten – wer die altfranzösische Übersetzung mit Wolframs Original einmal vergleicht, wird sehen, dass Wolfram diese Freiheit in ganzen Zügen ausgekostet hat. Um jedoch Wolframs ganz eigenständiges Werk authentisch nachzuerzählen, habe ich mich dazu entschlossen, den Handlungssträngen seines Werkes nichts Neues hinzuzufügen.

Die Vorlage für den „Willehalm“ sind in Versen/Strophen verfasste altfranzösische Heldenepen, eine sogenannte Chanson de Geste (lat. gesta=Taten). Es gehörte zur Tradition der höfischen Literatur um 1200, dass französische Stoffe von deutschen Dichtern übersetzt bzw. bearbeitet wurden, etwa auch die Artusromane Hartmanns oder Wolframs Parzival und Gottfrieds Tristan. Aber nicht nur keltische, auch antike Stoffe wurden bearbeitet, wie es Heinrich von Veldeke mit seiner Version des altranzösischen „Roman d'Eneas“ gezeigt hat.

„Wolframs Vorhaben, eine chanson de geste für ein deutsches Publikum zu bearbeiten, war in der Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts aber kein Novum, denn es hatte schon um 1170 vom Pfaffen Konrad eine deutsche Version der Chanson de Roland gegeben sowie auch um 1200 eine niederrheinische Bearbeitung der chansons de geste um Karl den Großen. Aber für den Dichter des Artus- und Gralromans Parzival, ein Werk, in dem die minne und zuht (auch gegenüber den Heiden) ausschlaggebend sind, war die Wende zu einer kriegslüsternen, mit religiösem Fanatismus durchzogenen chanson de geste erstaunlich. Ob Wolfram selbst diese Wahl getroffen hat, oder ob er von seinem Auftraggeber dazu aufgefordert wurde, können wir nicht mit Sicherheit sagen.“

Aus: Der „Willehalm“ Wolframs von Eschenbach. Eine Einführung, John Greenfield, Lydia Miklautsch, Walter de Gruyter, 1998

Bildquelle:
Wolfram <von Eschenbach>  ; Amira, Karl von [Hrsg.] Die Bruchstücke der großen Bilderhandschrift von Wolframs Willehalm: farbiges Faksimile in zwanzig Tafeln nebst Einleitung — München, 1921

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