Die "Toleranzrede" Giburgs im "Willehalm"

"Wir sind doch alle als Heiden auf die Welt gekommen": Arabel-Giburgs berühmt gewordenes Schonungsgebot ist Wolframs immer noch aktueller Appell an religiöse Toleranz - eine Leseprobe aus "Willeham und Arabel".

Bevor der Fürstenrat wieder auseinandergeht, bittet Giburg darum, ein paar abschließende Worte an die Versammelten richten zu dürfen.
„Wer Anstand und ein Herz hat, der höre mich an!“, beginnt sie ernst. „Das große Sterben auf beiden Seiten hat mir den Hass der Christen und der Heiden eingetragen. Wenn es meine Schuld ist, soll Gott mich richten! Die römischen Fürsten möchte ich dazu ermahnen, das Ansehen des Christentums zu mehren. Aber hört auch auf die Lehre einer ungelehrten Frau: Schont alle Geschöpfe Gottes! Der erste Mensch, den Gott erschuf, war ein Heide. Auch Noah in der Arche war ein Heide und er rettete ihn doch. Nehmt die heiligen drei Könige, auch sie waren Heiden. Trotzdem hat Gott noch an der Mutterbrust von ihnen die ersten Gaben angenommen. Nicht alle Heiden sind verdammt! Wir wissen, dass alle Kinder von Eva an als Heiden auf die Welt kommen, auch wenn sie ein getaufter Schoß umschlossen hat – ihre Leibesfrucht ist noch ungetauft, also heidnisch. Die Juden haben eine besondere Art der Taufe, die vollziehen sie mit einem Schnitt. Wir waren doch alle einmal Heiden!“
Die Männer in der Kapelle lauschen angespannt, einige schauen betreten auf den Boden. Doch unerschrocken fährt Giburg mit ihrer Rede fort: „Was euch auch die Heiden angetan haben, bedenkt, dass Gott selbst bereit war, seinen Mördern zu vergeben. Wenn er euch jetzt im Kampf siegen lässt, dann habt wie er Erbarmen! Ich diene nicht dem Heidengott Tervagant, sondern Gottes helfender, kunstreicher Hand. Ihre Kraft hat mich von Mohammed weg zur Taufe gebracht. Das hat mir den Hass meiner Verwandten und den Hass der Christen zugezogen, weil beide meinen, ich hätte es der Wolllust wegen gemacht, und so den Krieg verursacht. Die Wahrheit ist: Ich habe selber Liebe und großen Reichtum dort zurück gelassen, schöne Kinder von einem Mann, von dem ich nicht behaupten kann, dass er jemals Unrecht tat, seit ich die Krone von ihm empfing. Tibalt von Arabien trägt keine Schuld, die trage ganz alleine ich! Es ging mir um die Gunst des Allmächtigen und auch um den Markgrafen, der soviel Ruhm erworben hat. Glaubt mir, mit dem Tod eurer Verwandten starb mein Glück.“

Aus: Willehalm und Arabel, S. 141 - 142

 

Bildquelle: Babywiege

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